Perspektive verändern

Ein Blümchen, so hab ich mir gedacht, als ich vor einigen Jahren diesen kleinen Gegenstand als Werbegeschenk bekommen habe. Dem Zweck des Blümchens bin ich nicht weiter nachgegangen. Als ich mir im Frühjahr bei einem Sturz das Handgelenk gebrochen habe und der ganze Arm im Gips verpackt und stillgelegt war, ist mir die kleine Blume wieder eingefallen. Irgendwie hatte ich sie doch als etwas Sinnvolles in Erinnerung. Und tatsächlich: auf dem Deckel einer Wasserflasche fixiert, hat sie es mir ermöglicht, Wasserflaschen aufzubekommen. Selbständig. Ohne jemand um Hilfe bitten zu müssen.

Ich war stolz darauf – so verrückt es klingt: ich war glücklich, diesen unbedeutenden Handgriff wieder allein zu schaffen. Es gab immer noch so viele Gelegenheiten, bei denen ich andere fragen musste, bei denen andere mich unterstützen mussten. Ein Brötchen aufschneiden, eine Dose öffnen, eine Türklinke drücken, wenn ich eine Tasche in der anderen Hand hatte, Schuhe binden…

In den Begegnungen mit Patient:innen habe ich oft gehört, wie schwer es ist, dieses Gefühl von Hilflosigkeit aushalten zu müssen. Jetzt habe ich die Erfahrung selber gemacht – und eine Unzufriedenheit und Unruhe in mir entdeckt, die ich so noch nicht kannte. Inzwischen bin ich wieder weitgehend eigenständig unterwegs. Aber ich musste durch diese dunkle Zeit hindurch – realisieren, dass ich angewiesen bin. Jetzt nur vorübergehend – in ein paar Jahren oder Jahrzehnten dann aber vielleicht dauerhaft… Und auch wenn ich eingeschränkt bin, so bin ich doch lebendig – und mein Leben hat einen Sinn!

Als ich dieses Gefühl von Begrenztheit annehmen konnte, hat sich etwas verändert. Ich konnte von dem, was nicht ging, meinen Blick wieder auf das lenken, was ich schaffen konnte, was wieder möglich war. Ich konnte aufhören, mich zu bedauern, und anfangen, wieder zu leben.

Diesen Blick auf das Glas, das nicht nur halb leer ist, sondern auch halb voll – wünsche ich uns allen – immer wieder neu!


 Text und Bild: Annette Schulze Pastoralreferentin, Klinikseelsorgerin,   Geistliche Mentorin