Mitten im Jahr – das ist eine gute Gelegenheit, einmal innezuhalten und zu schauen, wo ich stehe, wohin der Weg führt, wer ich gerade bin…
Die Jahresringe eines Baumes können da eine kleine Anschauungshilfe sein. Wenn ich meine Lebenszeit wie die Ringe eines Baumes betrachte, frage ich mich, wo ich magere Jahre erlebt hab, in denen es mir schlecht ging, in denen es nicht genug gab von dem, was ich zum Leben brauchte – Zeiten, in denen ich verletzt worden bin, aus denen mir seelische Wunden geblieben sind. Dann gab es aber auch satte Jahre: Erlebnisse, die mich beglückt und gestärkt haben, Erinnerungen, die mich lächeln lassen, wenn ich daran zurückdenke, Begegnungen, aus denen ich lebe.
Keinen meiner Jahresringe, keinen Monat, keinen Augenblick meines Lebens, der hinter mir liegt, kann ich verändern. Sie alle gehören zu mir, sie haben mich wachsen lassen – haben mich zu der gemacht, die ich heute bin – einmalig und unverwechselbar.
Wie gut ein Baum wächst, hängt auch von seinem Standort ab. Ein gutes Klima, ein feuchter Boden lassen ihn wachsen und zu viel Trockenheit schadet ihm. Oft genug sehen wir das, wenn wir im Wald oder auf Feldern unterwegs sind. Ein Baum kann wachsen, wenn er in der Nähe eines Bachs oder einer Quelle verortet ist. Wenn er seine Wurzeln tief in der Erde verankern kann, wird er getragen und gehalten und übersteht auch einen Sturm.
Im ersten Psalm der Bibel wird ein Menschen beschrieben, der seinen Weg mit Gott geht: „Er gleicht einem Baum, der am Wasser gepflanzt ist. Er trägt Früchte zur rechten Zeit, und seine Blätter welken nicht. Alles, was er tut, gelingt ihm gut.“
Wie ein Baum am Wasser hat ein Mensch, der sich auf Gott verlässt, einen guten Platz im Leben. Er oder sie ist verwurzelt und getragen. So ein Mensch hat genug von dem, was sie oder er braucht – und kann gut leben. Zufrieden, dankbar. Er/sie kann Frucht bringen – und damit andere beschenken.
Wenn ich die Ringe meines Lebens betrachte, kann ich schauen und staunen, wo überall Gott mir nah war. In einer Zeit, in der mir vieles gelungen ist und grünte und blühte. Aber auch in einer Zeit, als ich fast am Austrocknen, am Verhungern war – und Gott mein Halt, selbst dann, wenn ich es damals nicht gemerkt habe.
Eine schöne Vorstellung – vor allem, wenn ich sie aus der Vergangenheit mitnehme in mein Heute und Morgen: ich habe einen guten Ort – und ich darf leben, wachsen, blühen, reifen – und gute Frucht bringen. Lothar Zenetti formuliert es so: „Wie ein Baum sei vor dir mein Leben. Wie ein Baum sei vor dir mein Gebet.“
Text : Annette Schulze Pastoralreferentin, Klinikseelsorgerin, Geistliche Mentorin
Foto: Pfarrbriefservice (Mani Manigatterer)